Heft 6/2019, afrika süd-Dossier: Tradition im globalen Zeitalter

Ist die afrikanische Hexerei von der europäischen verschieden?

VERSUCH EINER KONTEXTUALISIERUNG DES HEXENWESENS

Auf dem afrikanischen Kontinent südlich der Sahara haben Hexenglaube und Hexenpraktiken nach Ende des Kolonialismus, seit 1960, massiv zugenommen. Das bestätigen einerseits afrikanische Menschen selbst und das stellen auch Anthropologen und Religionswissenschaftler fest. Ist dies ein Afrika eigenes Phänomen, einmalig und isoliert, oder ist es mit den spätmittelalterlichen Vorgängen in Europa und Neuengland/USA vergleichbar?

Wir müssen uns von vornherein bewusst sein,

  • dass Afrikas Denkweise nicht wie die abendländische ist, die Jahrhunderte lang vom Christentum und seinen Werten geformt wurde. Afrikas Menschen agieren abwechslungsweise und gleichzeitig mit verschiedenen Religionssystemen, mit Schamanismus, Naturgeistern und animierter Welt, traditionell und christlich oder islamisch, alt und neu, sakral und säkular; alles überschneidet sich und ist dennoch nicht im westlichen Sinn eklektizistisch; nicht willkürlich, sondern wie ein Instrument oder Werkzeug, das je nach Umstand pragmatisch und im Kontext sinnvoll ist;
  • dass Afrika keineswegs von dualistischen Denkschemata wie der Westen mit seinem Entweder-Oder, Gut-Böse, usw. geprägt ist; afrikanisches Denken tendiert eher zum Parallelismus, zur Gleichzeitigkeit, zur Durchmischung, zum Ineinander und Miteinander, auch als Hybridisierung bezeichnet;
  • dass es im afrikanischen Denken von einst weder einen Platz für einen Teufel gab noch direkt und klar von Gott gesprochen wurde: wohl aber kannten Afrikaner neben den Ahnen-Geistern Hunderte von Naturgeistern, Kobolden, Feen und Elfen, Aufhockern und Mahren, Trollen und Chimären, Drei- und Vielbeinern, fantastische Tiere und Vögel, Würmer und Schlangen;
  • dass es in diesen Denkweisen Afrikas nicht um Fortschritt oder Wachstum, sondern um Fruchtbarkeit, um Nachkommen und Ahnen geht; er/sie/es muss fruchtbar werden und bleiben, muss durch das Zeugen das Leben (nicht die Welt) fortsetzen;
  • dass südlich der Sahara die eigentlich Handelnden die Ahnen sind; diese sind Verursacher von (bestimmten) Krankheiten und (gewissen) Unglücken;
    dass es auf dem afrikanischen Kontinent vor Auftreten des Christentums und Islam (beides monotheistische Religionen) nie zu Religionsverfolgungen gekommen ist. Im Gegensatz dazu folgte auf dem europäischen Kontinent eine Religionsverfolgung der anderen. Den Hexenjagden vorausgegangen waren in Südfrankreich die Sektenverfolgungen der Katharer und Waldenser.

Ähnlichkeiten und Parallelen
Und all das vorausgesetzt, gibt es im heutigen afrikanischen und mittelalterlichen Hexenwesen viele Gemeinsamkeiten. Wir befassen uns also mit historischen Perioden, die ähnliche Gegebenheiten aufweisen.

Die klassische Zeit der europäischen Hexenjagden liegt zwischen 1500 und 1700. Im Bereich des heutigen Deutschland setzten die großen Hexenjagden nach 1560 ein. 1453 endete der Hundertjährige Krieg. 1529 standen die Türken vor Wien. Was gehört zum typischen Hintergrund, der heute in Afrika sich fast wiederholt, jedoch aufgrund anderer Voraussetzungen eine andere Form des Hexenwesens entstehen lässt?

Man befindet sich in einer historischen Übergangszeit, time of transition. Übergänge sind stets turbulent bis chaotisch: Das Alte stimmt nicht mehr, das Neue ist nebulös.

Man agierte in einer Werteunsicherheit; alles, was vorher ins Sakrale integriert war, teilt sich in sacred und secular oder profane auf.

Es existiert kein allgemein gültiges Rechtssystem mehr, das Sicherheit gegeben hätte. Menschen, die entweder schwach (Frauen) oder randständig (Lesben, Homosexuelle, geistig Behinderte) lebten, konnten leicht grundlos verdächtigt werden. Eine besondere, meist etwas abweichende Lebensweise ließ Menschen aus diesen Randgruppen allzu leicht als gefährlich erscheinen; sie wurden angeklagt, ohne dass sie sich verteidigen konnten.

Hexenkraft ist mehr als Häresie: sie betrifft die physische und nicht die spirituelle Welt. Warum wurde Hexerei zum Verbrechen? Diese Frage ist eigentlich nicht geklärt.

Es waren Zeiten der Kriege und Katastrophen, von Hungersnot und Pest, und man suchte einen Weg der Erklärung, da man nach der scholastischen Denkweise der Dominikaner (Thomas von Aquin, 1225-1274) nicht mehr einfach alles direkt Gott zuschieben konnte; es war eine Zeit der Sündenböcke und Rationalisierungen, d.h. verzweifelten Erklärungsversuche, Projektionen statt Begründungen.

Sowohl im europäischen Mittelalter als auch in Afrika unter dem Kolonialismus hatte eine moderne Medizin eingesetzt, die durch Krieg und Krisen entweder ganz zerstört oder verknappt wurde, sodass wieder zur – inzwischen ziemlich verfallenen – traditionellen Medizin – mit den witchdoctors, wie die Europäer, incl. Ethnologen, sie nannten – gegriffen wird.

Diffuse Angst geht um; Erklärungsnot herrscht; Führung sowohl vom Staat als auch durch die Kirchen (katholisch und protestantisch) fehlt; Es gibt sowohl ein Machtvakuum als auch eine theologische Krise.

Wie einst Sekten im Mittelalter nehmen im modernen Afrika unabhängige christliche Kirchen, die IACs, zu. Führend sind die über zehntausend Pfingstbewegungen, die Geistbeschwörungskirchen, die Heilungs- und Wunder-Bewegungen.

Afrika wird nach der Kolonialzeit vom Chaos überrannt wie Europa im Spätmittelalter. Das koloniale Recht verschwand mit der Unabhängigkeit, doch die neuen Regierungen hatten sich keine Zeit genommen, ein nationales Recht zu schaffen. Das Volk greift wieder auf die heute meist korrupten Chiefs zurück. Der nigerianische Schriftsteller Chinua Achebe charakterisiert die Lage treffend mit Things Fall Apart, Titel seines bekanntesten Romans. Und wenn alles zerfällt, dann kommt die Zeit der Hexen.

Dennoch – was ist anders in Afrika?
Die alte afrikanische Familiengebundenheit bleibt [...] und verstärkt sich sogar im Ausland. Alle schicken Geld aus der Fremde. Keiner und keine entgeht, denn diese Tat ist nicht nur ein Muss, sondern auch ein Fluch der Tradition. Im Europa des Spätmittelalters lebte man von der Subsistenz; das Geld spielte noch längst nicht die Rolle wie heute; auch in Afrika existiert nun neben der Subsistenz auch eine Geldwirtschaft.

In Afrika südlich der Sahara kommen noch die Ahnen und ihr Wesen hinzu; diese Ahnen leben weiter, solange jemand an sie denkt; sobald die Lebenden sie zu vergessen beginnen, erinnern sie lebende Verwandte der Großfamilie mit schädigenden Eingriffen an ihre Existenz im Hintergrund, indem sie allerhand Quälendes oder Unangenehmes aufkommen lassen.

Der afrikanische Mensch steht also doppelt oder von zwei Seiten unter Druck, entweder durch Ahnen oder durch die Großfamilie. In diesen Bereichen spielt sich Hexerei ab. Weil afrikanische Menschen in ihrem System noch immer zuhause sind, wirken sich ihr traditioneller Glaube und damit verbunden ihre Einbildung aus. Daraus entsteht ein psychologischer Mechanismus, wobei der sog. Hexen-Einfluss selbst in der Ferne wirkt.

Diese Form der Hexerei wird zur sozialen Kontrolle innerhalb der Großfamilie. Witchcraft in dieser Form wirkt nicht – wie im Abendland des Mittelalters – auf andere oder fremde Familien. Im mittelalterlichen Dorf gab es natürlich auch eine strikte soziale Kontrolle, doch war diese nicht an Verwandtschaft gebunden.

Der heutige Hexenkult in Afrika überträgt sich mehr und mehr auf alle Bereiche des Lebens. So entsteht eine Form der Verhexung in der heutigen Politik. Witchcraft wurde in allen Befreiungsbewegungen eingesetzt. Mit Witchcraft wird in der staatlichen Einheitspartei operiert. Wer daran glaubt, ist beeinflussbar und manipulierbar.

Kurz und schlecht: Hexerei beginnt auf dem Kontinent alle Bereiche des Lebens zu erfassen. Mit dem mittelalterlichen abendländischen Hexenwahn hat jedoch das Ganze wenig zu tun. Man müsste es eher in den Bereich der Magie einreihen.

Im südlichen Afrika wird klar zwischen herbalists und witchdoctoris unterschieden. Die vielen Unterscheidungen vom Gris-Gris (alle Arten von Abwehr- und Schutzmitteln) bis zum Muti (Schwarze Magie Instrumentarien) sind zu einer Exklusivwissenschaft geworden. Wahrscheinlich dem christlichen Einfluss zuzuschreiben sind die vielen Formen von Besessenheit, von der direkten Teufelsbesessenheit bis zu den In-Besitznahmen durch Ahnen und anderen Geistern.

Fragen, die sich ergeben oder denen man nachgehen müsste: Wo handelt es sich um Fehlvergleiche und Zufälligkeiten? Ist im Westen die Hexenzeit vorbei? Gibt es also weltweit immer wieder neue Formen der Hexerei und Hexenverfolgungen [Terroristen-, Ausländerhatz, Menschenrechts- und Journalistenmorde]? Wobei bei all dem das Wort Hexe der falsche Begriff ist, denn es geht immer um Kämpfe im Alltag.

Verkürzt sei gesagt: Hexenglaube wie Hexenverfolgungen sind primär gesellschaftliche und nur zufällig religiöse Phänomene, stets die Gesellschaft und den Zeitgeist widerspiegelnd.

Al Imfeld

Auszüge aus: Al Imfeld, Ist die afrikanische Hexerei von der europäischen verschieden?, Juli 2009 http://www.alimfeld.ch/index.php/philosophie-und-religion/40-afrikanische-hexerei