Heft 6/2019, afrika süd-Dossier: Tradition im globalen Zeitalter

Was Menschen so glauben

AUSZUG AUS EINER REDE ANLÄSSLICH DER JAHRESVERSAMMLUNG DER LESOTHO SCIENCE AND MATHS TEACHERS' ASSOCIATION AM 21.5.1994

Miltenberg ist eine kleine Stadt in Deutschland mit wunderschönen Gebäuden, manche davon sind mehrere hundert Jahre alt. In Teilen dieser Stadt hat man das Gefühl im Mittelalter und nicht im modernen Deutschland zu sein.

In dieser Stadt lebte vor nicht allzu langer Zeit eine Familie, deren Tochter an Epilepsie litt. Die Eltern, die sehr religiös waren, glaubten, sie sei vom Teufel besessen. Sie baten den Priester einer der großen christlichen Kirchen, mit Exorzismus-Riten den Teufel auszutreiben. Zu dieser Zeit hatte das Mädchen bereits aufgehört zu essen und es wurden auch keine Versuche unternommen, es künstlich zu ernähren. So geschah, was geschehen musste: Das Mädchen verhungerte, starb und wurde begraben.

Einige Zeit später wurden die Eltern angeklagt, durch Vernachlässigung den Tod ihrer Tochter verursacht zu haben. Sie aber beteuerten, es sei der Teufel gewesen. Sie forderten vom Gericht die Erlaubnis, den Leichnam zu exhumieren, denn, so der Glaube, ein vom Teufel besessener Körper zersetze sich nicht. Dies wurde ihnen gewährt.

Was denken Sie, was in dem Grab gefunden wurde? Nun, ein verwester Körper natürlich. Ich las diese Geschichte in einer tansanischen Zeitung und bekam sie später in Deutschland bestätigt. Was mag die „Daily News" dazu veranlasst haben, dieses merkwürdige Ereignis im weit entfernten Deutschland für berichtenswert zu halten? Ich vermute, sie wollten ihrer Leserschaft folgendes sagen: Seht mal her, diese Europäer, diese Deutschen. Wenn sie in unser Land kommen, sind sie schockiert darüber, was Menschen hier so glauben – und doch passieren auch in ihren eigenen Reihen merkwürdige Dinge.

Vor der Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in unserer Bevölkerung waren Deutsche genau so abergläubisch wie Basotho. Sie glaubten an Hexerei und Magie und sahen sich nicht als Akteure ihres Lebens, sondern oftmals als Opfer von Geistern und bösen Mächten.

Wie sollten Menschen ohne naturwissenschaftliche Kenntnisse verstehen, dass es einem Menschen nicht möglich ist, einen Blitz in ein bestimmtes Haus oder eine Person zu lenken? Welch andere Erklärung als Hexerei sollten Menschen für Krankheiten und Tod haben, wenn sie nichts über Viren und Bakterien wissen und darüber, wie ihr Körper funktioniert?

Naturwissenschaften in Lesotho zu unterrichten kollidiert ganz klar mit vielen traditionellen Glaubensvorstellungen. Manche unter uns würden sich wünschen, dass sich eine naturwissenschaftlich geprägte Weltsicht schneller verbreitet. Aber wie wir auch an Beispielen aus Europa sehen, ist dies ein langwieriger Prozess.

Es geht jedoch nicht nur darum, dass das, was unterrichtet wird, im Gegensatz zu dem steht, was Menschen so glauben, sondern auch um die Herangehensweise. Mathematik und Naturwissenschaften basieren auf Tatsachen und Beweisen, Ursache und Wirkung und erfordern und trainieren somit logisches Denken. Traditionelle Glaubensvorstellungen jedoch wollen geglaubt und nicht hinterfragt werden.

Naturwissenschaften zu verstehen kann eine befreiende und ermächtigende Wirkung haben. Es befreit Menschen von dem Gefühl, unvorhersehbaren Kräften hilflos ausgeliefert zu sein. Es befähigt Menschen dazu, einen größeren Teil ihres Lebens in die eigenen Hände zu nehmen. Es kann jedoch auch dazu führen, ihre Bedeutung zu überschätzen und davon auszugehen, dass man mit ihrer Hilfe alles meistern kann.

Brigitte Reinhardt

Die Autorin, 1. Vorstandsvorsitzende der issa, war von 1990 -1996 Landesdirektorin des Deutschen Entwicklungsdienstes (DED) in Lesotho. Im Rahmen des Budgets für „Einheimische Organisationen" unterstützte der DED die Lesotho Science and Maths Teachers' Association (LSMTA).