Heft 6/2020, Editorial

Beharrlichkeit gegen Wandel

Was für ein Jahr: Corona ist gekommen und hält die Welt in Atem, und ein Ende ist trotz Hoffnung auf die neuen Impfstoffe noch nicht in Sicht. Das Virus trifft die Industrienationen, die Europäer, die alten Kolonialmächte, direkter als Afrika. Dort sind es eher die immensen Kollateralschäden durch die zusätzliche Herausforderung Covid-19. Warnungen der WHO vor den indirekten Folgen der Pandemie für die Länder des globalen Südens werden in den Industrieländern geflissentlich ignoriert. Die EU hat sich zwei Milliarden Impfdosen gesichert, das Versprechen von einem global gerechten Impfsystem verkommt zum bloßen Lippenbekenntnis. Corona deckt – wiewohl es selbst keine Grenzen kennt – die ungleichen Herrschaftsverhältnisse in einer Welt auf, die an einem Wendepunkt angelangt zu sein scheint. Ein Zurück zur Normalität kann es nicht mehr geben, denn mit der zunehmenden Erderwärmung droht mit der längst spürbaren Klimakrise eine viel größere Gefahr als die jetzige Pandemie. Die Menschen in den westlichen Konsumgesellschaften scheinen mehr als der Rest der Welt von einer latenten Angst befallen zu sein: Gewissheiten, Privilegien, ja die Zukunft ist gefühlt nicht mehr sicher.

Überall bäumen sich die beharrlichen Kräfte auf, um am alten, an gewohnten Privilegien festzuhalten. Populisten verschließen die Augen vor Veränderungen und Realitäten, wie es absurder ein gestrauchelter US-Präsident Trump nicht vorführen kann, der noch nach Dutzenden von Niederlagen vor Gericht nicht aufgibt, die Fälschung der – selten so korrekt verlaufenen – US-Wahlen zu beklagen.

Das ist das Dilemma liberaler Demokratien: Sie können sich gegen die Flut von Falschmeldungen über soziale Netzwerke wie WhatsApp, Telegram oder Twitter kaum noch wehren, ohne ihre Grundwerte auf freie Meinungsäußerung zu verraten. Eine Zensur wie in autoritären Staaten jedenfalls verbietet sich. Rechte Netzwerke nutzen das aus und führen über diese Kanäle einen regelrechten Infokrieg. Es ist die Zeit der Leugner: Sie hauen den Menschen so lange Fake News um die Ohren, bis diese sie für wahr halten. Wie anders ist zu erklären, dass 70 Prozent der Republikaner in den USA an Wahlbetrug glauben oder Zehntausende Verquer-Denker in Deutschland gegen eine angebliche „Corona-Diktatur" auf die Straße gehen?

Man kann die Realität auch einfach wegbeten, wie es Tansanias gottesfürchtiger Präsident John Magufuli verordnet hat. Covid-19 ist in dem Land offiziell kein Thema mehr, wer anderes behauptet, dem droht Gefängnis. Und dann gewann Magufuli mit verdächtigen 85 Prozent die Präsidentschaftswahlen im Oktober. Warum musste er den Urnengang noch fälschen lassen, wenn ihm auch so dank seiner Popularität auf dem Lande eine satte Mehrheit der Bevölkerung gewiss gewesen wäre? Die Opposition hatte angesichts der angezogenen Repression ohnehin keine Chance, Oppositionsführer Tundu Lissu musste erneut ins Exil fliehen.

Es gibt jedoch auch kleine Lichter der Demokratie, die in diesem Jahr ab und an aufleuchteten. In Malawi hat das Oberste Gericht die umstrittene Präsidentschaftswahl vom Mai 2019 annulliert und ein gutes Jahr später wiederholen lassen. Der neue Präsident Lazarus Chakwera ist freilich ebenso kein Heilsbringer wie Kongos Präsident Félix Tshisekedi. Die Strukturen und Machtverhältnisse sind global wie auch in den einzelnen Ländern zu festgefahren, um von einzelnen Politikern grundlegend verändert werden zu können. Allzu schnell Hochgejubelte können gar nicht anders, als an den in sie gesteckten Erwartungen zu scheitern: Da bekommt Äthiopiens neuer Präsident Abiy Ahmed den Friedensnobelpreis, weil er dem Erzfeind Eritrea die Hand reichen wollte, um dann prompt einen blutigen Feldzug gegen die abtrünnige Region Tigray im Norden als einziges Mittel zu sehen, das Auseinanderfallen des Vielvölkerstaats zu verhindern.

Und wie steht es um Cyril Ramaphosas Feldzug gegen die Korruption in Südafrikas ANC? Den im November erlassenen Haftbefehl gegen ANC-Generalsekretär Ace Magashule kann er als Erfolg verbuchen, doch die mit Korruption und Machtmissbrauch beschuldigten Kräfte in der Regierungspartei zeigen sich ebenso beharrlich an ihren Ämtern und Pfründen klebend, wie überhaupt die ehemaligen Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika sich mit Veränderungen schwertun oder diese geradezu torpedieren. Den wirklichen Fortschritt erkämpfen sich die Menschen an der Basis, so wie eine Gruppe von Frauen in einer ländlichen Gemeinde bei Pietermaritzburg, die den ständigen Wasserausfall nicht hinnehmen wollen und alte Quellen reaktivieren – ein kleiner Artikel in dieser Ausgabe, und doch gibt es zahlreiche Beispiele von lokalen Initiativen, die im Kleinen die Lösung für die großen Herausforderung finden. Überhaupt sind es mehrheitlich Frauen, die sich um die Zukunft Sorgen machen und handeln – seien es die vielen Schülerinnen der Fridays-for-Future-Bewegung, seien es die Demonstrantinnen in Belarus und Polen, seien es die Aktivistinnen in Namibia, die dafür gesorgt haben, dass sich die Kampagne für ein Grundeinkommen neu formiert. Ein schwieriges Jahr und ein turbulentes Jahrzehnt neigen sich dem Ende zu, die kommende Dekade wird zeigen, ob sich die Kräfte des Wandels unter den neuen Vorzeichen durchsetzen können.

Lothar Berger