Heft 6/2021, Südafrika

A Hidden Hero

ZUM TOD VON HERMAN BAILEY. Das Bild südafrikanischer Politiker in der weltweiten Öffentlichkeit ist bereits seit einigen Jahren geprägt durch zwei Arten von Persönlichkeiten. Da sind zum einen Egomanen, hochkorrupte Machteliten und offensichtlich unfähige Parteiaufsteiger. Andererseits bringt das Land gleichzeitig herausragende Persönlichkeiten wie Nelson Mandela, Erzbischof Desmond Tutu, Walter Sisulu, Miriam Makeba und Denis Goldberg hervor, um nur einige Beispiele zu nennen. Aber neben den öffentlichen Aktivist:innen und Führer:innen der Freiheitsbewegung gab es auch die „hidden heroes", die sich unermüdlich um eine anderes, demokratisches und nicht rassistisches Südafrika und das Wohl der Menschen einsetzten. Stille Heldinnen und Helden wie z.B. Helen Suzman, Pieter-Dirk Uys, Marlene le Roux und Herman Bailey. Sie haben mit Umsicht und mit hohem persönlichen Risiko den Weg hin zu einem demokratischen Südafrika geebnet und nach 1990 das zerrissene Land umstrukturiert und für eine Neuorientierung gesorgt. Am 23. Juli 2021 hat die Covid-Pandemie einen dieser in Europa nur wenig bekannten Helden aus seiner Gemeinschaft gerissen.

Herman Bailey, geboren 1950 in Wellington, einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Kapstadt, gehörte zur Volksgruppe der „Coloureds". Er war zeitlebens kein Mitglied des ANC, denn auch die Freiheitsbewegung hatte bis vor kurzem eine klare ethnische Ausrichtung, bei der Coloureds kaum ein Zugang gewährt wurde.

Die Vorfahren von „Uncle Hermie", wie er liebevoll von seinen Nachbarn und Freunden Wellingtons genannt wurde, kamen als Sklaven aus den holländischen Kolonien in Asien. Seine Eltern waren Subsistenzfarmer bzw. Lohnarbeiter in der Karoo. Nach der Übernahme der Regierungsgeschäfte 1948 durch die Nationale Partei und der gesetzlichen Einführung der Apartheid verloren sie ihren Grundbesitz und zogen als Farmarbeiter:innen in die Landwirtschaftsgürtel rund um Kapstadt, wo vornehmlich Obst, Gemüse und Wein angebaut wurde und immer noch wird.

Bereits als Heranwachsender erlebte Herman die Ausbeutung der Farmarbeiter durch die weißen Farmer und auch ausländischen Grundeigentümer. Dazu trugen die miserablen Lebensumstände wie zum Beispiel die schlechte Gesundheitsversorgung, schlechte Ausbildung, fehlende Kinderbetreuung, keinerlei Mitsprache und eine unzulängliche und ungesunde Nahrungsmittelversorgung bei. Der Monatslohn wurde zumeist mit dem „Dot-System" verrechnet, also mit Wein- oder Alkohol-Deputaten. Alkoholismus und Missbildungen von Säuglingen waren damals an der Tagesordnung.

Auch während seiner Schulzeit waren es immer landwirtschaftliche Themen, die Herman interessierten und faszinierten. Trotz herausragender schulischer Abschlüsse war ein Studium an einer Hochschule oder einer landwirtschaftlichen Fachhochschule aufgrund der politischen, gesellschaftlichen und finanziellen Gegebenheiten unmöglich. So entschied er sich Ende der 60er-Jahre, eine Fachhochschulausbildung am Peninsula Technical College im Fach „Public Health" zu beginnen, die er 1970 mit einem Diplom und besten Noten abschloss. Es folgte ein National Diploma in „Air Pollution Control" am Witwatersrand College for Advanced Technical Education in Johannesburg 1974. Bereits damals stellte die Verbrennung von Steinkohle zur Stromerzeugung eine große Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung dar.

Schnell bemerkte man in seiner Heimatregion am Kap Herman Baileys außergewöhnliches Talent im Bereich der Kommunikation und unterstützte sein Fernstudium an der University of South Africa im Fachbereich Kommunikation. Auch dieses B.A.-Studium schloss er mit überragenden Ergebnissen ab, so dass er 1983 ein Stipendium für ein Post-Graduierten-Studium der Entwicklungspolitik an der University of Atlanta in Georgia (USA) erhielt. Fachkurse in Management schlossen sich in den USA an. Die Eckpfeiler für ein später weltumspannendes Netzwerk waren gesetzt.

Zwischenzeitlich erwarb sich der hochaktive und aufrichtig am Wohl der Gemeinschaft orientierte Uni-Absolvent praktische Berufserfahrung als Health Inspector, Berater beim National Council on Alcoholism and Drug Dependence (SANCA) und als Regional Manager der ländlichen Stiftung (Rural Foundation), die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Situation der Landarbeiterinnen und Landarbeiter radikal zu verbessern und international darüber aufzuklären und in Südafrika umgehend Änderungen an der bedrückenden Situation zu bewirken. In vielen Fällen gelang dies außerordentlich gut, auch durch die Unterstützung und das Engagement westlicher Organisationen. Viele Farmer erkannten die Chancen, die ihnen geboten wurden. Ihnen wurde klar, dass sich die Gesamtsituation im Land ändern musste, und überdachten z. T. ihre Farmstrategien. Es war besonders die hervorragende Kommunikation von Herman Bailey mit den Farmern, seine Ehrlichkeit, Offenheit und Transparenz, die die Obst- und Weinbauern überzeugte. Aus purer Gegnerschaft wurden immer mehr Kooperation und gegenseitiges Verständnis.

1986 wurde Herman Generalmanager für Public Relations and Fundraising der Rural Foundation. Zu seinen Aufgaben gehörten vor allem Reisen zu den internationalen Partnern weltweit, Präsentationen und natürlich politische Gespräche – offiziell wie inoffiziell. Er erwies sich bei diesen Diskussionen als gewandter Diplomat, der nicht nur die Interessen der nicht-weißen Mehrheit des Landes bestens vertreten konnte, sondern auch als Vermittler und Versöhner, der bereits vor der Freilassung von Mandela „Truth and Reconciliation" propagierte. Zusammen mit Expert:innen plante er damals, Ende der 80er-Jahre, die notwendigen institutionellen Reformen des Landes.

Herman Baileys besondere Art und Weise der Führung, der Kommunikation, der Vermittlung zwischen unterschiedlichen Positionen, seine visionäre Art und seine gelebte Menschlichkeit machten ihn zu einem der beliebtesten Politiker im Western Cape.

Seine wahre Berufung konnte man aber kurz nach der Freilassung von Nelson Mandela und Aufhebung des Verbots des ANC beobachten. Umgehend engagierte er sich bei der Umgestaltung und Demokratisierung viele verkrusteter und von Apartheid geprägter Organisationen, wie dem Staatsfernsehen SABC, das jahrzehntelang der Propagandasender der weißen Regierung war. Ebenso brachte er sich in die relevanten landwirtschaftlichen Organisationen und auch Weingüter ein und krempelte deren Struktur um. Auch die notwendigen ersten Schritte bei einer Landreform trug er als unabhängiger Politiker mit.

Nach der Implementierung der neuen Verfassung wurde er als unabhängiger Kandidat bei den Regionalwahlen von der Bürgerschaft in Drakenstein aufgestellt. Er wurde mit überragender Mehrheit zum ersten nicht-weißen Bürgermeister in Südafrika gewählt. Doch bereits während der ersten freien und demokratischen Wahlen in Südafrika wurde ihm deutlich gemacht, dass auch der ANC mit unlauteren und undemokratischen Mitteln politisch zu kämpfen wusste. In der Nacht vor der Wahl schaffte die ANC-Jugendorganisation mit Bussen, LKWs und PKWs tausende ANC-Anhänger nach Paarl, wo sie die Wahllokale überfluteten und wahrscheinlich dem ANC zu einigen tausend illegalen Extrastimmen verhalfen. Als der ANC nach der Abstimmung keine Mittel besaß, um die Menschen zurück in ihre Heimatdörfer ans Ostkap zu befördern, bildeten sich nahe Paarl die ersten High-Density Townships, die bis heute ein Hotspot für Bandenkriminalität, politische Auseinandersetzungen und Drogenkonsum bilden. Bis Ende 2006 hielt Bailey die Position eines Executive Mayor der Drakenstein Municipality.

Immer wieder wurde der erfolgreiche Vermittler, Erneuerer und Moderator auch nach Deutschland zu politischen Konsultationen und Politikberatung eingeladen. Viele deutsche Bundestagsabgeordnete und Minister suchten seinen Rat in Bezug auf Afrikafragen und Bewertungen. In Berlin wurden ihm Orden und Ehrungen überreicht, u. a. auch für die Initiierung von Kulturprogrammen, Ausstellungen und Sportveranstaltungen. Mehrfach wurde er für den Deutschen Afrika-Preis vorgeschlagen.

Anlässlich der Fifa-Fußball-WM in Deutschland leitete Herman Bailey eine südafrikanische Delegation, die von den deutschen Organisatoren viele Hinweise bekam, wie man die alles beherrschende Macht der Fifa zumindest ein wenig einschränken könnte. Das waren wertvolle Hinweise für die Austragungsorte am Kap. Im Endeffekt hat es jedoch wohl weniger geholfen als ursprünglich erhofft.

Ende 2006 entschied sich Herman Bailey, dass es an der Zeit war, die Kommunalpolitik einer neuen, jungen Generation zu überlassen, damit sie ihre Träume und Ideen umsetzen sollten. Seine vier Söhne waren zu diesem Zeitpunkt bereits alle sehr erfolgreich in ihr Berufsleben gestartet. Sie tragen die ethischen Werte ihres Vaters als TV-Journalist, Politikberater im Parlament, Unternehmer und Logistiker weiter.

Der selbst von ehemaligen Freiheitskämpfern als Kleptokrat bezeichnete südafrikanische Präsident Jacob Zuma erschütterte das Vertrauen des erfolgreichen Kommunalpolitikers und Demokratieförderers so tief, dass er sich fast komplett ins Privatleben zurückzog und sich zunehmend mit Aus- und Weiterbildung beschäftigte. Er unterstütze fortan die FW de Klerk-Stiftung in ihrer Funktion als Verfassungs-Watchdog. U. a. entwickelte er aber auch eine virtuelle Vorlesungsreihe über Partizipation und Demokratieförderung für junge Menschen im vom simbabwischen Kleptokraten Robert Mugabe unterdrückten Simbabwe. Bis heute stellt dies den Maßstab für virtuelle Demokratieförderung in der SADC-Region.

Ab 2018 engagierte er sich zunehmend für eine Absicherung der Nahrungsmittelversorgung durch neue Technologien und neue ökologische Ansätze. Besonders interessierten ihn die Mykorrhizen, also eine Form der Symbiose von Pilzen und Pflanzen, bei der ein Pilz mit dem Feinwurzelsystem einer Pflanze in Kontakt ist und dadurch u. a. die Erträge und die Widerstandskraft der Pflanze entscheidend verbessert.

2019 wurde er Leiter des Advisory-Boards des deutschen Agro-Start-Ups Desertfoods International, die sich die entscheidende Verbesserung der Aquaponics-Technologie verschrieben haben und eine erste Testfarm in Hekpoort bei Johannesburg betreiben. Herman Bailey sollte zusammen mit der landwirtschaftlichen Fakultät der Universität Stellenbosch ein digitales SADC-Agro-College aufbauen und einer jungen Generation von Landwirten das Farming mit modernen, klimaangepassten Systemen eröffnen.
Es gäbe noch so viel mehr zu schreiben, z. B. seine Arbeit als Lokalhistoriker, sein Engagement für den Erhalt der Afrikaans-Sprache oder seine große Leidenschaft – der Zucht von Chrysanthemen.

Doch wenige Tage bevor er die lang ersehnte Covid-19-Impfung erhalten sollte, infizierte sich Herman Bailey. Innerhalb von kürzester Zeit verstarb ein Mann, der die Leben von so vielen Menschen positiv beeinflusst hat, unerwartet in einem Klinikum in Kapstadt. Die Trauer in seiner Familie, bei seinen Freunden, seiner Heimatstadt Wellinton und am Western Cape war tief und aufrichtig. Mit „Uncle Hermey" ist ein wahrhaft guter Mensch und vertrauenswürdiger Politiker, von denen es so wenige gibt, von uns gegangen. Der Redensart „Er hinterlässt eine große Lücke" ist oft nur höflich gemeint – bei Mr. Herman Bailey ist sie offensichtlich – und sie wird sich lange Zeit nicht schließen.

Jürgen Langen


„Ein großartiger Motivator"
Dr. Salie Khalid, Direktor der landwirtschaftlichen Fakultät der Stellenbosch University:
„Ich begann mein Berufspraktikum als Entwickler für Aquakultur 1996 bei der Rural Foundation im Rahmen des Programms für ländliche Entwicklung unter der Leitung von Professor Mohammad Karaan. Herman war der Leiter der Rural Foundation. Ich hatte gerade meinen akademischen Bachelor-Abschluss bestanden und fühlte mich jetzt bereit, die Welt zu verändern, aber noch jung und unerfahren! Unsere neue Demokratie, der Wiederaufbau des Landes und die vielen Entwicklungsprogramme der Regierung standen ganz oben auf der Tagesordnung. Wir waren alle aufgeregt und wollten unseren Beitrag für das neue Südafrika zu leisten! Meine erste Begegnung mit Herman war eine offizielle Begrüßung und ein kurzes Treffen. Die körperliche Statur eines Mannes mit einem erstaunlichen Selbstbewusstsein, Offenheit und Freundlichkeit fiel auf. Er sprach sowohl auf Englisch als auch auf Afrikaans wortgewandt und mit so viel Freundlichkeit. Man hatte das Gefühl, dass er einen tadeln und fast gleichzeitig loben konnte. Später habe ich ihn viel besser kennengelernt und von ihm gelernt, dass man sich nicht dafür entschuldigen muss, wer man ist und woher man kommt. Ihm war der Gemeinschaftssinn in all seinen Formen sehr wichtig, und er betonte, wie wichtig es ist, immer eine konstruktive Rolle zu spielen. Er war ein großartiger Motivator und konnte von einer völlig ernsthaften zu einer fröhlichen, scherzhaften und lustigen Persönlichkeit wechseln..."