Heft 6/2021, Editorial

Abgestraft für Covid-19-Transparenz

Das zweite „Corona-Jahr" neigt sich dem Ende entgegen, viele Staaten in Europa befinden sich in diesen spätherbstlichen und frühwinterlichen Tagen in einer sehr starken „vierten Corona-Welle". Deutschland eilt von einem negativen Rekord zum nächsten mit zeitweise weit über 70.000 täglichen Covid-19-Infektionen und einer äußerst prekären Situation an deutschen Krankenhäusern. Mittlerweile muss die deutsche Bundeswehr flächendeckend Patienten innerhalb Deutschlands verlegen, um eine Triage insbesondere in den südlichen und östlichen Bundesländern zu vermeiden.

In der südlichen Hemisphäre sah die Situation bis Mitte November, auch und gerade in Südafrika, sehr positiv aus. Die täglichen Infektionszahlen befanden sich dort in einem konstant niedrigen dreistelligen Bereich und auch die Impfungen erreichten Fortschritte, so dass beispielsweise in den Provinzen Free State und Western Cape bereits über 50 Prozent der erwachsenen Bevölkerung Ende November mindestens ihre erste Impfung mit dem Vakzin von Pfizer/Biontech bekommen hatten. Daneben lief bereits seit einigen Wochen die Impfkampagne für die 12- bis 17-jährigen Jugendlichen an und auch Krankenhausmitarbeiter:innen bekamen die jeweiligen Booster-Impfungen.

Ende November stiegen die Infektionszahlen in der Provinz Gauteng und dort insbesondere in Tshwane/Pretoria sehr schnell auf über 1.000 tägliche Neuinfektionen an. Durch die sehr guten Laborkapazitäten fanden Mitte November erste Sequenzierungen von auffälligen Covid-19-Proben statt. Als B.1.1.529 wurde diese Covid-19-Mutation zunächst von südafrikanischer Seite aus bezeichnet.

Ehe die WHO ihre Einschätzung zu dieser neuen Mutation abgeben konnte, sprachen bereits sehr viele Medien und Journalisten vom „Südafrika-Virus" oder in der milderen Form von der „in Südafrika vorkommenden" neuen Covid-19-Variante. Dies ist in ungleich höheren Maße erstaunlich, da bei allen fünf durch die WHO als „Variants of Concern" (VOCs) bezeichneten Mutationen dies die erste ist, welche als dokumentierte Belege „multiple countries" (WHO 2021) angibt. Trotzdem überschlugen sich innerhalb von Stunden die Ereignisse und es kam bereits einen Tag vor der am 26. November erfolgten WHO-Definition als VOC durch die deutsche Bundesregierung zu ersten Reisebeschränkungen. Viele europäische Staaten schränkten ohne eine längere Frist unmittelbar den Flugverkehr ein.

Die chaotischen, emotionalen, zeitweise traumatischen Ereignisse aus 2020, die ich selbst am O. R. Tambo Airport von Johannesburg erlebte, wiederholten sich nun an den internationalen Flughäfen. Dies beschränkte sich keineswegs nur auf Südafrika, sondern betraf beispielsweise auch Namibia, wo zu diesem Zeitpunkt noch keine neue Covid-19-Mutation bekannt war. Die seit dem 26. November von der WHO als „besorgniserregend" bezeichnete Omikron-Variante führte dann sehr schnell zu stark steigenden Infektionszahlen innerhalb Südafrikas.

Diese kurze Skizzierung zeigt das teils panische und schnelle restriktive Vorgehen gegenüber afrikanischen Staaten, wobei sich die WHO strikt gegen abermalige und vorschnelle Reiserestriktionen wandte. Wichtiger wäre eine global einheitlich konsequente und rigide Teststrategie. Es muss mittel- bis langfristig mit sehr negativen Folgen für den südafrikanischen Staat, die südafrikanische Tourismus-Industrie und auch und gerade für viele Menschen aus prekären Lebenssituationen gerechnet werden. Phasenweise kam es zu hektischen Stornierungen. Auch wenn diese aktuell wieder rückläufig sind, bzw. wieder Reisen möglich sind, so sind doch längerfristige sozio-ökonomische Nachteile zu befürchten.

Daneben sind die globalen Folgen dieser Reaktionen für die Überwindung der gegenwärtigen und weiteren zukünftigen Pandemien als nahezu katastrophal zu betrachten. Gerade die sehr transparente und frühzeitige Informationsweitergabe von südafrikanischer Seite ermöglicht erst die gezielte und umgehende Untersuchung von Omikron – Zeit ist hier bekanntlich ein entscheidender Faktor – und dadurch auch gegebenenfalls das nötige Anpassen von Impfstoffen oder zukünftigen jährlichen Auffrischungsimpfungen. Wenn nun diese vorbildliche Herangehensweise der Untersuchung und Informationsweitergabe keine internationale Anerkennung und Unterstützung findet, sondern vielmehr panische Reaktionen und sozusagen ein „Abstrafen" hervorruft, ist für die Zukunft schlimmstes zu erwarten. Da Covid-19 wohl auch zukünftig weitere Mutationen hervorrufen wird, ist eine derart transparente Informationspolitik zu wünschen, auch um dem globalen Charakter der Pandemie Rechnung zu tragen und diese als gemeinsame Anstrengung zu überwinden. Nach dieser internationalen Reaktion muss allerdings eine eher zurückhaltende Informationspolitik befürchtet werden.

Es bleibt zu hoffen, dass nicht nur Südafrika, sondern ALLE Staaten dieser Welt weiterhin transparent ihre Daten zu Covid-19 veröffentlichen, genauso wie hoffentlich auch zukünftig eine gerechtere Verteilung und Produktion von Impfstoffen für und in den Ländern des Globalen Südens erfolgen wird. Denn „es gilt weiterhin, dass diese Pandemie erst vorbei ist, wenn sie für alle vorbei ist", wie es medico international in einem Kommentar treffend formulierte.

Dr. Michael M. Kretzer